No regrets – oder: Ist Reue ein Gefühl #sobriety

Reue, was ist das eigentlich? Ein Gefühl, oder doch eher etwas Kognitives?
Ich höre seit Wochen regelmäßig den Sobriety-Podcast von Sodaklub.com. Die beiden Erzählerinnen sind etwa in meinem Alter und manchmal habe ich das Gefühl, ich bin eine Mischung aus beiden. Was naheliegend ist, weil ich schon meine, dass grundlegende Gefühlswelten, Erlebnisse und Einstellungen etc. bei Trinker*innen durchaus ähnlich sind. Was nicht heißen soll, dass ich hier alle über einen Kamm scheren will.

In der aktuellen Folge geht es um das Thema Reue und das hat mich extrem gecatcht. Tatsächlich schreibe ich seit mehr als einer Woche an diesem Beitrag, habe die Podcast-Folge schon viermal gehört und irgendwie befriedigen mich meine Gedanken und Erkenntnisse bisher nicht so richtig.
Ich habe bisher immer behauptet, dass ich nichts in meinem Leben bereue. Bei der Aussage möchte ich weitestgehend bleiben, zumindest, was lebensentscheidende Dinge angeht. Ich bereue meine eher holprige, berufliche Laufbahn nicht. Es dauerte eben eine Weile, bis ich (mehr oder weniger durch Zufall) meine wahre Bestimmung gefunden habe. Ich bereue auch nicht, dass ich fünf Jahre in einer toxischen Beziehung mit einem Narzissten war und ihn geheiratet habe. Ich bereute auch viele weitere Entscheidungen nicht, die mir zunächst Schmerz und Leid gebracht haben. Denn bisher hat sich immer herausgestellt, dass es alles für irgendetwas gut war.
Dass ich auch das Gute im Schmerz sehen kann, war nicht immer so. Sicherlich wäre mir viel Leid erspart geblieben. Aber vielleicht hätte ich auch die ein oder andere Erfahrung nicht gemacht, um die ich jetzt reicher bin und die mir gezeigt hat, wie ich mein Leben nicht haben möchte.
Generell gibt es im Nachhinein kaum Entscheidungen, die ich selbst getroffen habe, die ich komplett infrage stelle. Ich kann in allen Dingen einen Sinn sehen. Alles, wenn auch manchmal schmerzhaft, chaotisch und kompliziert, war am Ende für irgendetwas gut. Und Dinge, die andere Menschen mir angetan haben, kann ich ja nicht bereuen.

Ich denke – und damit stimme ich auch mit den Podcasterinnen überein – wenn ich etwas bereue, dann ist es die Zeit, die ich verloren habe. Denn die habe ich wirklich verloren. An Erfahrungen bin ich nur reicher geworden, egal ob gut oder schlecht. Wenn ich etwas ändern könnte, dann wäre es die Tatsache, dass ich meine Fehler nicht dreimal hätte machen müssen, sondern, dass ich bereits nach dem ersten Mal daraus gelernt hätte. Und sicherlich haben Reife und Erfahrung damit etwas zu tun, aber auch die Trinkerei ist daran nicht unschuldig.

Die meisten wissen es vermutlich, wer trinkt, schläft schlechter. Auch, wenn man im ersten Moment meinen möchte, einen schnelleren und tieferen Schlaf zu finden. Das ist ein Trugschluss. Alkohol ist ein Sedativum. Auf Deutsch: Du bist betäubt, aber tief und erholsam ist der Schlaf deswegen nicht. Und vor allem findet die sogenannte REM-Schlaf-Phase nur sehr gering bis gar nicht statt. Und das ist (angeblich) die Phase des Schlafes, in der das Gehirn verarbeitet und lernt. (Bemerkung: 100 % bewiesen ist das nicht)
Dazu aber an anderer Stelle mehr. Was ich hier eigentlich sagen will ist: Ich bereue es schon, dass ich nicht eher aus meinen Fehlern gelernt habe. Und ich merke jetzt, wie schnell ich in der Nüchternheit lerne, wie sich Dinge verändern und wie viel konstruktiver alles wird.

Dennoch stelle ich mir dann die Frage: Lag es nur am Trinken? Vermutlich nicht. Sicherlich spielt bereits erwähnte Zeit auch eine Rolle. Und sicherlich musste ich einige Erfahrungen machen und einiges an schlechtes Entscheidungen meinerseits tolerieren, bevor ich bereit war, etwas zu ändern. Und wieder mal passt dieser Denkprozess gerade zeitlich gut.
In den letzten Wochen habe ich mich oft gequält mit der Abstinenz. Seit kurzem fühle ich mich aber ziemlich fein damit. Irgendwie habe ich das Gefühl, es kommt endlich und langsam bei mir an, wozu das Nüchternwerden/sein gut war und ist. Und ich empfinde große Dankbarkeit für die Chance auf ein glückliches Leben, die ich mir selbst damit gebe. Und was noch viel wichtiger ist: Ich lerne mich selbst ganz neu kennen. Das ist manchmal sehr anstrengend, zugleich aber auch unglaublich spannend.

Zurück zur Reue. Was ist das denn nun eigentlich? Ist Reue ein Gefühl? Also so etwas wie Wut oder Trauer?
Die Podcasterinnen sagen: Reue ist der Wunsch nach einer neuen Gegenwart, verbunden damit, dass man frühere Entscheidungen anders oder besser getroffen hätte. Oder: Das Gefühl von jetzt, durch Denken über die Vergangenheit, ändern.

Ich finde beide Sätze gut und muss im gleichen Atemzug feststellen, dass ich doch einiges bereue. Aber eben nur so Kleinigkeiten. Das sind aber hauptsächlich Sachen, die ich nüchtern vermutlich nicht getan hätte. Wenn man betrunken ist, wird man oft achtlos, sich selbst und anderen gegenüber.

Ein weiterer Gedanke aus dem Podcast: Was tue ich vs. wer bin ich? Bin ich eine achtlose Person? Oder verhalte ich mich achtlos? Wenn ich eine Sache bereue, dann mein betrunkenes Verhalten. Denn die nüchterne Elli achtet auf sich und ihre Mitmenschen. Die betrunkene Elli scheißt auf all das. Vor allem scheißt sie auf Morgen. Und diese Achtlosigkeit hat mich rückblickend viel zu oft dazu gebracht, kein Ende zu finden, Filmrisse zu haben, mich auf Dinge einzulassen, die definitiv unter meine Würde waren und vor allem (und das ist gewissenstechnisch echt das Schlimmste) achtlos gegenüber Menschen zu sein, die sich um mich sorgen.
Das hier wird keine Entschuldigung an alle, die ich achtlos behandelt habe, als ich betrunken war. Zumindest nicht in dem Sinne, dass ich den Alkohol dafür verantwortlich mache. Das Thema Schuld, Verantwortung und Alkohol ist ein anderes großes Kapitel, welches mich in einen enormen Zwiespalt wirft. Dazu später mal mehr.

Um es auf den Punkt zu bringen: ich bereue mein betrunkenes Verhalten und die Entscheidungen, die aus meiner Achtlosigkeit entstanden sind. Wieso? Nicht, weil es besonders verwerflich ist, dass ich mit unzähligen Personen ins Bett gegangen bin, mit denen ich nüchtern vermutlich nichts angefangen hätte… oder eben doch… keine Ahnung. Ich denke, ich bereue es, weil es nicht achtsam war. Weil ich nicht sicher bin, ob dieses Verhalten so richtig zu mir passte. Schlampe sein, ja. (Ich persönlich finde diese Bezeichnung im „richtigen Kontext“ nicht schlimm) Mich „unter Wert verkaufen“, nein!
Und tatsächlich hat der Alkohol mich am Ende doch um die schönsten Momente gebracht, an die ich mich viel zu oft nicht mehr erinnern kann.

Und dann stellt sich mir die Frage: wie viel schlimmer hätte es sein können? Habe ich Glück gehabt?
Ich hatte Glück, dass die Menschen im Großen und Ganzen gut zu mir waren. Dass in den seltensten Fällen meine Trunkenheit ausgenutzt wurde. Dass der ein oder andere betrunkene, ungeschützte Sex keine Folgen hatte. Ich hatte Glück, dass ich neben ein paar aufgeschlagenen Knien oder kaputten Speichen keine schlimmeren Unfallfolgen von betrunkenem Radfahren davongetragen habe. Ich habe Glück, dass ich nach wie vor fit und gesund bin.

Und dann spüre ich irgendwie Dankbarkeit. Sodaklub nennt es die Antireue. Ist es das?
Irgendwie wirft mich diese Thematik in einen Strudel aus Gedanken und Fragen. Reue ist für mich kein Gefühl. Eher ein Konstrukt aus Gedanken an die Vergangenheit und damit verbundene Gefühle. Da ist große Scham. Da ist auch ein bisschen Trauer, wegen der Achtlosigkeit mir selbst gegenüber und da ist auch viel Wut im Sinne von einem enorm starken Abgrenzungsbedürfnis.

Zu guter Letzt will ich das Thema Verantwortung hier doch noch mit in den Ring werfen. Übernehme ich Verantwortung? Habe ich schon die komplette und 100%ige Verantwortung für mein Trinken übernommen? Oder wälze ich sie ab. Schiebe ich die Verantwortung auf mein Trauma und sage mir insgeheim, dass ich ja gar nicht anders konnte, als zu trinken? Kann man das überhaupt so schwarz-weiß sehen? Ich finde keine eindeutige Antwort und vor allem keine, die mich annähernd befriedigt.
Manchmal bin ich wütend auf mich selbst. Weil ich mir sage, ich hätte es ja nicht so weit kommen lassen müssen, dass ich jetzt gar nicht mehr trinken kann. Ist das die Wahrheit? Dass ich selbst Schuld bin?
Ich denke, ich suche verzweifelt nach einem Mittelweg und vor allem nach Vergebung und Mitgefühl für mich selbst. Vielleicht ist die Zeit dafür auch einfach noch nicht gekommen….

7 Gedanken zu “No regrets – oder: Ist Reue ein Gefühl #sobriety

  1. Hallo Ellis,
    Deine Worte kann ich so gut nachvollziehen, denn es sind meine Gedanken und Gefühle.
    Ich kann für mich sagen, dass ich nicht glaube ich sei schuld an meiner Trinkervergangenheit. Ich wurde geprägt durch mein Elternhaus, meine Familie, mein ganzes soziales Konstrukt durch Freunde und der Gegend in der ich aufgewachsen bin. Nicht trinken gab es nicht. Ist noch immer verpönt, wird belächelt und negiert. Ja, wir sind selbst für unser Handeln verantwortlich, aber wir werden auch stark durch vorgelebtes geprägt.
    Jetzt bin ich erwachsen und trage die Verantwortung für mein Handeln und treffe bessere Entscheidungen. Doch ist das Kind, schon vor vielen Jahren, in den Brunnen gefallen und ich darfs jetzt ausbaden.
    Dennoch schaue ich nicht zurück, suche nicht nach Ursachen, sondern versuche jetzt, 30 Jahre nach Erstkonsum, gute Entscheidungen für mich zu treffen.
    Liebe Ellis, danke für deine Worte.
    Gruß
    Nicole

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  2. Schön, von Dir zu lesen! 🙂
    Ich finde es klasse, wie Du diese Zeit reflektierst auf der Frage nach dem Warum. Und ebenso, dass Du den Schwerpunkt aber auf die Gegenwart, Deine Abstinenz legst.
    Ganz liebe Grüße!

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  3. „Non, je ne regrette rien“ – wer kennt das Chanson von Edith Piaf nicht? Du beschreibst das ja treffend.
    Du hast früher Entscheidungen getroffen, die zum damaligen Zeitpunkt richtig waren – sonst hättest Du sie nicht so getroffen. Das ist Vergangenheit, Du kannst daran nichts mehr ändern. Wichtig ist doch, dass Du Dein Verhalten geändert hast, als Du merktest, dass etwas nicht stimmt. Und wie Du richtig schreibst – Du bist nicht schuld an Deinem Trinkverhalten – das ist einfach eines der Merkmale dieser heimtückischen Krankheit.
    Mein Therapeut formulierte es vor über 30 Jahren so: Fürs Hinfallen kannst Du nichts, aber fürs Liegenbleiben.
    Und vertreib ganz schnell den Gedanken „…nichts mehr trinken KANN“ durch „nichts mehr trinken WOLLEN“

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    • Danke für deine Worte. Ich bin jedes Mal gerührt und erfüllt von Dankbarkeit von dieser Anteilnahme und dem gegenseitigen Mutmachen. Das gibt mir so viel.
      Und zu deinem letzten Satz: du hast vollkommen recht.
      Manchmal sage ich auch: „wie gut, dass ich jetzt nicht trinken muss.“

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