Sie mochte Spiegel schon immer. Im Grunde mochte sie auch meist ihr Spiegelbild. Seit sie denken kann, hat sie viel Zeit vor dem Spiegel verbracht. Sie erinnert sich: im Kinderzimmer gab es immer eine riesige Spiegelfront. Eine ganze Wand voller kleiner Ichs. Vielleicht kam daher eine gewisse Eitelkeit, vielleicht auch der leichte Hang zum Perfektionismus und vor allem bald eine sehr kritische Haltung ihrem Körper gegenüber. Auch die Gesellschaft war kritisch mit ihr. Sie neigte schon immer zum Anderssein. Eben anders als andere, immer ein bisschen extremer, ein klein weniger schriller. Dabei fühlte sie sich gar nicht so besonders. Kritik gab es vor allem aus den eigenen Reihen. Nur, wer schlank ist, ist schön. Nur wer „normal“ aussieht, ist etwas wert.
Ihr Gesicht fand sie immer sehr hübsch. Ihren Körper konnte sie lange akzeptieren. Vielleicht nicht lieben, aber er stellte auch kein größeres Problem dar. Doch auch diese Sichtweise änderte sich irgendwann. Die erste Diät und merken, dass man es doch selbst in der Hand hat, dass man Gewicht kontrollieren kann und Körperformen nichts sind, denen man von der Natur so einfach ausgesetzt wird. Und da winkte wieder der Perfektionismus und der Hang, nun doch wieder besonderer als andere zu sein. Sie hatte eine neue Sache gefunden, die sie, wenn sie wollte, vollkommen kontrollieren konnte. Sie liebte Kontrolle, das hatte etwas Machtvolles. Macht haben, heißt nicht machtlos sein. Machtlos sein, heißt wütend sein. Diese Art der Kontrolle hatte etwas Heilendes. Sie konnte ihr Spiegelbild verändern. Sie wusste, wie sie es zu tun hatte. Doch verlor sie die Kontrolle in diesem Bereich mit der Zeit auch. Hieß es früher, wenn du schlank bist, bist du was, gab es bald nur noch bedauernde Blicke und ein zaghaftes Betteln: Kind, iss doch mal was. Sie sah sich im Spiegel. Nichts war perfekt. Was sollte sie denn noch tun, um endlich genug zu sein?
Und irgendwann revoltierte sie dann nur noch aus Trotz. Sie provozierte, sie fiel auf. Sie wollte sexy sein und zugleich unnahbar. Wieder extrem. Piercings, Tattoos. Auffallen um jeden Preis, anders sein, polarisieren. Sie wollte gesehen werden. Vielmehr aber wollte sie gehört werden.
Es gab Tage, da stand sie auf und konnte sich nicht mehr im Spiegel sehen. Ekel, Furcht, dunkle Gefühle. Wonach suchte sie denn? Wann war es endlich perfekt?
Wenn man in ihre Augen sah, konnte man deutlich sehen, was hinter der hübschen und stylischen Fassade gerade passierte. Sie konnte fröhlich sein, ja wirklich. Und doch mischte sich Freude oft mit Wut und Traurigkeit. Manchmal hasste sie sich selbst dafür, dass sie in Gedanken andere Menschen ebenso unter Druck setzte, wie sich es mit sich selbst tat. Sagen würde sie so etwas nie, weil sie weiß, wie es kaputt macht.
Aber mit der Zeit lernt sie immer ein bisschen dazu. Sie lernt, wie es geht, sich selbst zu lieben. Die Waage hat sie schon einige Wochen nicht mehr angesehen, weil das nicht so wichtig ist. Weil SIE wichtig ist. Nichts ist jemals perfekt. Und Selbstliebe lernt man nicht von heute auf morgen. Aber sie hat gemerkt, dass es ihr leichter fällt, die Liebe anderer anzunehmen, wenn sie sich auch wenigstens ein bisschen selbst lieb hat. Es ist ein Prozess, gelernte Denkmuster zu durchbrechen, neue zu lernen und anzuwenden. Aber sie geht jetzt endlich den Weg.
Sie schaut in den Spiegel und das Bild, was sie sieht, ist immer ein bisschen anders. Vielleicht schaut sie auch deshalb so oft, um sich zu vergewissern. Um sich zu merken, wie sie aussieht, diese junge Frau mit den ganzen Narben. Meistens mag sie eine Menge, von dem, was sie sieht. Meistens… Und dann versucht sie dankbar und stolz zu sein. Stolz, weil dieser Körper lebt und weil er jeden Tag eine Menge leistet. Und in Gedanken zeigt sie allen bösen Geistern den Mittelfinger. Ihr habt nicht das Recht, sie zu kommentieren!
Und irgendwann – so weiß sie – wird sie das alles können und dann muss sie vielleicht nicht mehr so oft den Kontrollblick machen. Dann weiß sie es einfach.