Der Brief

Wer hier fleißig mitliest, weiß, dass ich aus Dänemark einen Brief an meinen ehemaligen Chef geschrieben habe. In diesem Brief habe ich ihm total ungefiltert meine Gedanken mitgeteilt. Zum einen war da unglaublich viel Dankbarkeit für sechs Jahre Support und väterliche Fürsorge, sowie unglaublich viele Chancen, die ich gut genutzt habe. Er hat mich sowohl auf meinem Karriereweg unterstützt, wo er nur konnte, weil er mein Potenzial von Anfang an erkannt hat. Er ist mir aber auch privat zu einem unglaublich wertvollen Menschen geworden. Er hat eine Lücke geschlossen, von der ich lange Zeit gar nichts wusste, dass sie existierte. Ohne dass wir beide es wussten, war er neben Chef und gutem Freund auch immer ein Stück weit Vaterfigur für mich. Er war der Vater, der mir mein eigener in einigen Punkten nicht sein konnte. Bei ihm fühlte ich mich immer sicher und behütet. Und immerhin war er jahrelang die Person, mit der ich die meiste Zeit meines Tages verbracht habe. Das muss man sich mal vorstellen.
Klar hatten wir nicht immer nur rosige Zeiten, aber das kommt bekanntlich in den besten Beziehungen vor. Wichtig ist, dass wir uns immer wieder zusammen gerauft haben.
All das habe ich ihm in dem Brief geschrieben.

Letzte Woche kam der Brief bei ihm an. Ich war nervös, weil ich nicht wusste, wie er auf so viel Offenheit reagieren würde. Ja, wir waren immer offen und ehrlich und konnten über vieles reden, aber das war echt nochmal eine andere Hausnummer.
Umso mehr freute ich mich, als er mir schrieb, dass es ein wirklich toller Brief sei und wir unbedingt telefonieren müssten. Auch am Telefon sagte er mir noch einmal, dass er das unglaublich schön fand, was ich geschrieben hatte. Eine Sache hatte ich ihm auch mitgeteilt, nämlich, dass ich, als er unser Büro vor zwei Jahren verlassen musste, auch etwas sauer auf ihn war. Natürlich nicht direkt auf ihn. Es war mehr mein inneres trotziges Kind, was an all die Verluste erinnert wurde und mit diesem Verlust einfach nicht umgehen konnte. Wie konnte es ein, dass es schon wieder von einem Vater verlassen wurde? Das hatte natürlich mit der Realität nicht so viel zu tun. Aber das konnte ich ihm jetzt auf der Tonspur noch einmal mitteilen. Ich hoffe, er hat es verstanden.

Dann hat er tatsächlich auch nachgefragt, weil ich es angedeutet hatte, was denn in meiner Kindheit vorgefallen war. Auch das erzählte ich ihm. Immerhin waren die Hosen ja ohnehin schon unten. Ich erzählte auch, dass es mittlerweile gar nicht mehr die Tatsache an sich ist, die mich beschäftigt, sondern eben viel mehr das Umgehen meiner Familie mit der Thematik, nämlich gar nicht. Es wird eben alles immer nur totgeschwiegen. Wenn man nicht darüber redet, dann wird schon alles gut werden. Das ist natürlich großer Bullshit. Mein Ex-Chef weiß das auch. Ich bin nach dem Telefonat noch viel dankbarer. Ich bin so dankbar, dass ich mich verstanden fühle und dass ich solche Dinge jetzt, wo er nicht mehr mein Chef ist, offen mit ihm teilen kann.
Ich spürte sein Nicken und seine freundschaftliche und väterliche Anteilnahme. Er ist selbst auch kein Mensch, der ein Blatt vor den Mund nimmt und kennt tatsächlich auch eine ähnliche Situation wie die meine. Auch er kann eine solche Art und Weise damit umzugehen nicht nachvollziehen und versteht daher auch, wieso ich mich meiner leiblichen Familie gegenüber gerade so fühle, wie ich mich eben fühle.

Ich bin jetzt glücklicher denn je, dass mir all das klar geworden ist, weil mir das wirklich viel Halt gegeben hat. Ich bin mir selbst dankbar, dass ich es nicht wie meine Familie gemacht habe, dass ich das nicht alles für mich behalten habe, sondern, dass ich die Gelegenheit genutzt habe, diesen Brief endlich zu schreiben und abzuschicken. Es ist wie ein Befreiungsschlag. Und ich glaube, es stärkt unsere Beziehung noch einmal zusätzlich, da wir uns damit gegenseitig einen echten Vertrauensbeweis erbracht haben.

Elli hat mal wieder alles richtig gemacht. 🙂

Ein Gedanke zu “Der Brief

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