Funktionieren

Jeden Tag stehe ich auf, tue, was ich immer tue, lächle, bin freundlich zu den Kunden. Jeden Tag! Obwohl mir nicht jeden Tag nach Lächeln zu Mute ist. Wie kann ich funktionieren, obwohl es mich innerlich zerreißt? Ich will weinen…
Aber wer weint funktioniert nicht – nicht so, wie die Gesellschaft es von uns erwartet.

Ich fühle mich gelähmt von den Gefühlen, von den Gedanken, die unaufhörlich durch meinen Kopf rasen. Ich kann mich nicht fokussieren, nicht motivieren, nicht konzentrieren.

Äußerlich bin ich taff. Ich bin makellos gestylt, die Augenringe vom Weinen habe ich perfekt überschminkt. Ich sitze aufrecht an meinem Tisch, klicke mit der Maus und starre auf den Bildschirm, gehe ans Telefon, lächle und wünsche unbekannten Stimmen einen schönen Tag.

Innerlich bin ich ein kleines Kind. Ich habe Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit. Ich sehne mich nach meiner Mama, nach einer Umarmung, danach ihren Duft zu riechen, weil es der schönste der Welt ist und weil er mir immer Trost spenden konnte und ein Gefühl von Sicherheit gab.

Vertraute Menschen können Trost spenden, aber sie können mir die Last nicht nehmen. Sie können nicht machen, dass ich wieder makellos funktioniere. Das kann nur ich selbst leisten. Und: makellos – wer will das schon?!

Und irgendwann, wenn ich genug Kräfte gesammelt und alle Gedanken sortiert habe, ziehe ich mich an meinen eigenen Haaren aus dem Dreck.

Leiden, Weinen, Emotionen zulassen, rauslassen…das ist gut.
Aber ich muss auch wieder nach vorn sehen und Tränen und Sorgenfalten einem ehrlichen Lächeln weichen lassen, sonst verpasse ich womöglich die schönen Dinge auf meinem Weg.

Und dann erreichen mich Worte von weit entferneten Menschen, von Nachbarn, von Freunden und Fremden. Sie machen mir Mut, sie zeigen Verständnis, sie hören aufmerksam zu und nehmen Anteil. Sie sagen ich sei mutig. Vermutlich bin ich das. Und diese Anteilnahme zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich bin wertvoll. Das Leben ist schön.

4 Gedanken zu “Funktionieren

  1. Und du bist nicht die Einzige/der einzige Mensch, der mit dieser Sehnsucht, dieser Leere und dem funktionieren Wollen klar kommen, leben muss/will/darfst. Ob leider oder zum Glück, musst und darfst du für dich selber entscheiden.

    Prinzip Hoffnung. Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

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  2. Richtiger Weg. Wenn du merkst, dass dein Lächeln aus dir selbst kommt, dann hast du es geschafft.
    Das ist die Kunst der Worte. Sie können aufbauen, oder herunter ziehen. Zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Worte können so einen dunklen Tag zu einem schönen Tag machen.

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  3. „Wer weint, funktioniert nicht.“
    Wow, deine Worte beschreiben ziemlich gut, wie wir die Gesellschaft wohl alle ab und an empfinden. Die Frage ist nur, wann wir es endlich schaffen, tatsächlich zu leben, anstatt nur funktionieren zu müssen. :/

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